Eigentlich müsste Elkes Tag drei Zusatzstunden bekommen, mindestens drei Zusatzstunden – jedenfalls ist das ihr Grundgefühl. Elke hat nach erfolgreich abgeschlossenem Lehramtsstudium noch während ihrer Ausbildungsphase ihren Hannes geheiratet und vor dem zweiten Examen ihr erstes Kind bekommen. Gutes Timing und Organisationsvermögen scheinen ihr in die Wiege gelegt zu sein, außerdem war Klein-Hanna ausgesprochen pflegeleicht. Man höre und staune – jetzt hat sie drei Kinder sie arbeitet mit zwar reduzierter Stundenzahl, aber voller Elan. Die Unterrichtsvorbereitung geschieht am Abend, manchmal auch in den Nachtstunden. Mit eiserner Disziplin hält sie sich die Nachmittage ganz für ihre Kinder frei, begleitet sie bei den Hausaufgaben, fährt sie zu diversen Sport- und Musik-Aktivitäten. Selbst hält sie sich in ihrer wöchentlichen Jazzgymnastikgruppe fit. Letzte Woche wurde sie von ihrer Schulleiterin angesprochen. Die bat sie eindringlich, doch die Langzeitfortbildung „Anti-Aggressionstraining“ mitzumachen – zweimal in der Woche nachmittags. Was für ein verlockendes Angebote!
Aber wollte sie nicht auch ihre Geige entstauben, die seit dem Studium auf dem Schrank liegt? In der Schule gibt es ein Lehrer-Schüler-Eltern-Orchester. Klar, sie müsste dafür intensiv üben. Aber schon die Vorstellung – einfach toll! Eigentlich fühlt sich Elke wohl in ihrer Haut, auch wenn sie manchmal ganz schön genervt ist und Hannes seine Frau manchmal mitleidig anschaut … oder täuscht der Eindruck? Gut, dass er die Gelassenheit in Person ist. Nein, Elke hätte – ganz klar – überhaupt keine Veranlassung, in die Gruppe der „Anonymous Superwomen“ einzutreten, außerdem gibt’s die in Deutschland noch nicht. Wohl aber in den USA.
Dort treffen sich Frauen, die lange Zeit scheinbar spielend den alltäglichen Spagat bewältigen, in der – selbstverständlich möglichst erfolgreichen – Berufstätigkeit aktiv und daneben immer fit, schön und gestylt, die Supermutter und liebevolle, aufmerksame Ehefrau zu sein. „Manchmal finde ich mein Leben zum Kotzen“, wird eine Teilnehmerin zitiert, die angefangen hat, ihr „Bauchgefühl“ ernst zu nehmen. Und tatsächlich ist die Essstörung Bulimie in den Gruppen eine häufig diagnostizierte Erkrankung.
Wir leben in Zeiten, die durch Frieden, Freiheit, durch in vielen Bereichen tragende Gleichberechtigung und dadurch aufgelöste Rollenfixierungen für uns Frauen große Auswahlmöglichkeiten auf so vielen Gebieten des Lebens präsentieren ein buntes, vielfältiges Lebensangebot. Wir haben eine große Entscheidungsfreiheit!
Eine junge Frau drückte das „Ich-will-alles-nur- nichts-verpassen“-Lebensgefühl in so aus: „Durch die vielen Möglichkeiten, die man heute hat, will man viel zu viel wahrnehmen – und behindert sich selbst“. Manchmal macht man Dinge, die man gar nicht richtig will, nur um nichts zu verpassen. Die Kehrseite der vielfältigen Lebensoptionen ist eine um sich greifenden Gehetztheit und Reizüberflutung. Nicht schnell festgelegt zu werden, das schafft die Atmosphäre für eine allgemeine „Ich lege mich am besten gar nicht fest“-Lebenshaltung. Partnerbeziehungen, Freundschaften, Gemeindezugehörigkeiten geraten in diesen Strudel der Unverbindlichkeit und Unzuverlässigkeit. Ein Strudel, der nach unten zieht.