Als Tante Rosa und Oma Klara noch in ihren eigenen Wohnungen lebten, sie hatten beide ihren 80. Geburtstag noch nicht hinter sich gebracht, hatte ich für ein paar Jahre im noch nicht allzu lange wiedervereinten Berlin zu tun. Und da ich sowieso an jedem zweiten Wochenende meine beiden Töchter aus der ersten, zu der Zeit gerade beendeten Ehe bei mir hatte, waren die Wochenendprogramme dann schnell abgeklärt. Ein Wochenende die Töchter, das andere Wochenende zum Pflichtbesuch bei Oma Klara und Tante Rosa. Ja Pflichtbesuch. Denn wenn ich heute schreiben würde, ich hätte mich auf diese Nachmittage gefreut und wäre gern hingegangen, wäre das nicht korrekt. Und darum wurden diese Wochenend-Termine dann auch immer so gelegt, dass ich mit einem Besuch gleich beide unter einen Hut bekam. Denn zu der Zeit waren sie noch fit genug, sich gegenseitig mit U-Bahn und Bus zu besuchen. Soweit also die Besuchs-Logistik in der Theorie.
In der Praxis allerdings gestaltete sich das Unternehmen Wochenende schon bedeutend schwieriger. Denn erstens führte ich zu der Zeit ein – um es mal elegant zu umschreiben – etwas unstetes Privatleben. Da ergaben sich Verabredungen auch schon mal sehr kurzfristig. So richtig schwierig aber wurde die Sache dadurch, dass weder Oma Klara noch Tante Rosa telefonisch erreichbar waren. Sie wollten kein Telefon. Und ich konnte mir Fransen an den Mund reden – sie waren nicht davon zu überzeugen, dass ein Seniorentelefon eine durchaus sinnvolle Errungenschaft sein kann.
Für mich bedeutete das, immer einen Zeitpunkt für die Tresen mit den beiden zwei Wochen im Voraus abzustimmen. Kein ganz leichtes Unterfangen bei meinem zwar im groben Raster, aber ja nicht auf die Stunde festgelegten Wochenendprogramm. Zumal es ganz leicht war, bei den beiden in Ungnade zu fallen – wenn es mit der Zeitplanung mal wieder nicht so ganz genau geklappt hatte und ich erst eine Viertel- oder halbe Stunde nach der vereinbarten Zeit in der Tür stand. Vielleicht ist es bei Ihnen ja so, dass die Rentner in der Familie nie Zeit haben. Bei mir war es so, dass sie eigentlich immer und mangels anderer Verwandter reichlich Zeit hatten. Aber wehe, du kamst dann nicht auf den Gongschlag pünktlich. Es war mal wieder Viertel nach drei – statt Punkt drei Uhr. „Ach, Thomas …“ Dabei müssen Sie sich die Aussprache nun so denken, dass das „Ach“ eine völlig untergeordnete Bedeutung bekommt und die Betonung ausschließlich auf die mittlere Silbe meines Vornamens gelegt wird.
Mit der Betonung lässt sich ja eine Menge machen. Und in diesem Fall durfte man aus dem Tonfall schließen, man wäre so eine Art Überraschungsgast. Als stünde man völlig unerwartet vor der Tür. Als wäre da eigentlich jemand ganz anderer vorgesehen gewesen. Also mindestens der Papst. Aber dann steht da eben statt seiner Heiligkeit doch nur der Enkel und Großneffe vor der Tür. „Ach, Thomas …“
So viel freudiges Erstaunen konnte in der Begrüßung mitschwingen, dass du die Hornung haben konntest, die Viertelstunde Verspätung werde dir heute doch mal vergeben. Pustekuchen! Nein, vergiss es. Die Bedeutung der beiden Begrüßungsworte ist eine ganz andere.
Die Tür ist kaum zu, sie hat dich kaum ins Wohnzimmer geleitet, du hast weder Oma Klara begrüßt noch ein Wort gesagt, da wird bereits aus der Drehung beim Schließen der Tür heraus nach dem abgegriffenen Wecker mit den zerbröselten Leuchtziffern geangelt. Nicht, dass Tante Rosa „Hallo“ sagt. Das Wort hat es sowieso in ihrem Sprachschatz nicht gegeben. Ich nehme an, es war einfach zu modern. Nicht, dass sie irgendetwas in der Art von „schön, dass du da bist“ murmelt. Nicht. dass sie dich an die Hand nimmt und dich in den Raum führt. Nein, sie steht da, die Haare wie immer streng zurückgekämmt und auf dem Hinterkopf mit einer Unzahl von Kämmen und Nadeln zu einem Dutt gesteckt. Sie blickt dich durch ihre Brillengläser an. Kleine, wässrig blaue, wache Augen. Mit denen kann sie Blicke abschießen, die blitzschnell an dir auf und ab wandern. Da fühlst du dich dann so, wie sich wohl ein Stück Leberwurst buhlen muss, das gerade am Laserstrahl einer Scanner- Kasse im Supermarkt vorbeigeschoben wird. Ja, sie scannen dich ab, diese Augen. Und schon bereust du diese Viertelstunde. Diese lächerlichen 15 Minuten, die du irgendwo auf dem Weg verbummelt hast. Oder denen du schon seit dem Aufstehen hinterherläufst. 15 Minuten – mein Gott, was ist das schon. Aber dieses Scannen kommt dir wie eine Ewigkeit vor. Plötzlich fängst du an, jede Leberwurst zu beneiden, weil die nämlich nur für Sekundenbruchteile durch den Laserstrahl flitzt. Aber während du von deiner Tante gescannt wirst, ertönt eben nicht das befreiende Piepen, mit dem die Erfassung des Strichcodes von der Kasse quittiert wird. Gar nichts piept. Es ist mucksmäuschenstill. Und der Scannerblick geht weiter an dir rauf und runter. Trifft er zwischendurch mal – ob es nun Zufall ist oder mit voller Absicht geschieht – deine Augen, geht er durch sie hindurch. Das ist nicht nur Scannen, das ist zugleich auch noch Röntgen. Und dann kommt das, was jeder Leberwurst erspart bleibt. Weil sich Leberwürste nicht verspäten. Weil es nur wenige Menschen gibt, die mit Leberwürsten reden.